Leben und Werk von Nikolaus Reinartz,
Pfarrer und Heimatforscher - Ein Projekt von Nikola-reinartz.de und Nikolaus-reinartz.de





Ein Frühlingsgang zum Billiger Walde
Zugleich eine Studie zu Schillers „Der Spaziergang“

Im Nachlasse eines jungen Lehrers, der vor 32 Jahren das Lehrerseminar Euskirchen besuchte und im Weltkrieg den Heldentod starb, fand sich die Niederschrift eines Aufsatzes, die uns aus den Kreisen unserer Leser und Freunde zur Verfügung gestellt wurde. Sie ist gerade in der jetzigen Jahreszeit des Lenzerwachens von aktuellem Interesse.

Die Schriftleitung.

„Sei mir gegrüßt, mein Berg, mit dem rötlich strahlenden Gipfel !
Sei mir, Sonne gegrüßt, die ihn so lieblich bescheint!
Dich auch grüß' ich, belebte Flur, euch, säuselnde Linden.
Und den fröhlichen Chor, der auf den Aesten sich wiegt.“

(Aus Schiller: „Der Spaziergang.“)

Die langen Wintertage sind, Gott Dank, vorüber, und des Frühlings warmer Sonnenstrahl lockt doppelt verführerisch durch die Scheiben. Es umschmeichelt die Wangen und fällt mit mildem Reiz auf die Augenlider, als ob er anklopfen wollte an die Fenster der Seele mit dem leisen Lockruf: „Komm hinaus aus deines Zimmers Gefängnis in die frischjunge Lenzesnatur!“

Und so schreite ich denn bergaufwärts durchs Feld. Die Höhe des Billiger Waldes, der Bergrücken, der unsern Gemeindewald trägt, ist mein Ziel. Nicht auf der sogenannten Kirschenallee wandere ich, an der seine Kirschen wachsen, sondern auf Gewannwegen mitten in die Flur hinein.

Diese Wege führen in die Vegetation, man ist mitten im Herzen der grünenden Felder, in der ungestörten, freien Natur. Die Feiertagsstimmung liegt die schöpferische Jungkraft des beginnenden Lenzes über den Saaten, er hat sie aus dem Winterschlaf aufgeweckt. Das helle Grün des Werdens, der sanfte Schein jungfräulicher Schönheit und bräutlicher Erschließung ist ausgebreitet ringsum, so weit das Auge reicht. Kaum hat sich der Schoß der Erde geöffnet, um den Samen zur Himmelsluft entsprießen zu lassen; die taufrische Zartheit des Schöpfungsmorgens umgibt wie mit einer Gloriole Gräschen und Hälmchen, und teilt süßzartes Empfinden auch dem einsamen Wandersmann mit, der durch die Fluten schreitet. Ein einziges Roggenfeld weist Millionen von Pflänzchen auf, die alle aus dem Grabe der verfaulenden Samenkorns sich erheben. Mögen alle Forscher der Welt zusammentreten und Stoffe und Kräfte mischen, zerteilen und mit wunderbarem Scharfsinn zu neuen Gebilden zusammensetzen: hier zerschellt ihr großes Können an einem einzigen Gräslein; denn alle insgemein sind nicht imstande, auch nur in ein einziges Samenkörnlein oder Pflänzchen die Keimkraft zu legen und die Idee von den großen wogenden Halmen mit vollem Entwicklungsvermögen in das k,leine Samenkörnlein zusammen zu pressen. Da ist ein anderer Geist mit seiner Allmacht ihnen wie ein alles überragender Riese zuvorgekommen, so daß sie nur sagen können: „Wir beugen uns vor dem Schöpfer des All!“

Will die Lerche, die da vor uns auffliegt, diesen Gedanken in jubelnde Poesie umsetzen? Zwischen der grünen Saat und dem blauen Himmel schwebt sie als Herold des Frühlings wonnetrunken auf und nieder, als wolle sie der Erde Liederluft hinauf zu den lichten Himmelshöhen tragen und unerschöpflichen Dank dem Schöpfer der Frühlingspracht darbringen. Der Landmann legt die Hand vom Pflege und schaut nach dem aufstrebenden Pünktlein im Morgensonnenschein. Ja, sie besingt seine Arbeit, die fleißige Arbeit des Friedens, und versüßt den sauren Schweiß seines Angesichts mit Sangeszauber. In der frisch aufgeworfenen Furche des Pfluges finden sich ebenfalls alte Bekannte ein, jedoch weniger um sich in der Sangeskunst zu produzieren, als um sich an Würmern, Larven und Schnecken gütlich zu tun und dadurch unbewußt großen Nutzen zu stiften. Die Wegestelzen hüpfen schwänzelnd und tänzelnd leichtfüßig fast hart hinter dem Pfluge her, und Flüge von Staren bleiben schüchtern etwas in der Ferne; schwerfälliger, aber noch gefräßiger gebärden sich die Rabenkrähen. Dazwischen zerren sich die Feldspatzen um Samenkörner. Erschreckt fliegen einige plötzlich auf, ein Hase hat mein Kommen bemerkt und hastet querfeldein. Er weckt auch mehrere Feldhühner von ihrem stillen Tun auf: geräuschvoll flattern sie hart über der Erde eine kurze Strecke fort, um sich dort wieder in größerer Sicherheit niederzulassen. Sogar einige Feldmäuse huschen aufgeschreckt vor mir über den Weg.

„Frei empfängt mich die Wiese mit weihin verbreitetem Teppich.
Durch ihr freundliches Grün schlingt sich der ländliche Pfad:
Um mich summt die geschäftige Biene, mit zweifelndem Flügel
Wiegt der Schmetterling sich über den rötlichen Klee ...“

Ein anderes Bild! Mein Gewannenweg verliert sich in einer Wiese. Auch hier hat das Lenzeserwachen begonnen. Hunderte von Gräsern und Kräutern verschiedenster Gattungen sind vom Winterschlaf gleich Dornröschen erwacht, da der junge Königssohn Frühling ihren Boden betreten hat. Sie heben und strecken ihre Köpfchen, duften von Würze und Balsam, sie wagen sich zum Teil schon höher heraus, um ihre zukünftige fertige Gestalt im Miniaturbilde zu zeigen: ein Stengelchen, eine Dolde, ein Stern, ein Wedel, ein Schirm, eine Glocke, und verstehen auch schon, sich mit gelbem oder weißem Blumenschmuck vorteilhaft zu umgeben. Ihre jugendliche Schönheit sticht dadurch um so besser ab. Ein glänzender Zitronenfalter umgaukelt die soeben erblühten Schlüsselblumen, farbenprächtige Libellen stoßen um mich her - doch ich kann plötzlich nicht weiter -

„Aber wo bin ich? Es birgt sich der Pfad. Abschüssige Gründe
Hemmen mit gähnender Kluft hinter mir, vor mir den Schritt.“

Ein tiefer Graben tut sich auf, in dessen Grund ein klares Wässerlein rinnt. Die hohen beiderseitigen Böschungen sind von Hecken umwuchert: Schleh- und Weißdorn, Brombeersträucher und Wildrosen - so dicht, als wollten sie die Welt abschließen. Die Schlehen sind schon über und über mit weißen Blüten bedeckt, als wollten sie dem Bilde des saftiggrünen Wiesengrundes einen lichten Rahmen geben. Aber sie sperren meinen Weg. Indem ich mich einen Augenblick ratlos umwende, schweift mein Blick zur Stadt zurück, die schon tief unter mir liegt. Seitwärts in einer Heide seh ich eine Schafherde weiden -

„Vielfach ertönt der Herden Geläut' in belebten Gefilde.
Und den Widerhall weckt einsam des Hirten Gesang.“

Zwar singt der alte Schäfer, der, auf seinen Stab gelehnt bei der Herde steht, keine Lieder, aber sein scharfer Zuruf, der dem wachenden Hunde gilt, hallt vom Waldrand zurück. Seine Schafe müssen soeben hier vorbeigekommen sein, denn in den Dornenhecken haben sie manchen Wollflaum zurückgelassen. Vielleicht sind sie gar durch den Graben gegangen- Warum soll ich den Durchgang nicht erzwingen? (Schluß folgt)

(Schluß)

Und nun -

„In des Waldes Geheimnis entflieht mir auf einmal die Landschaft.
Und ein schlängelnder Pfad leitet mich steigend empor.“

So sehr breit wird der Durchgangspfad aber am Saum des aufsteigenden Lohschlages noch nicht, er vertieft sich zu einem Hohlwege, durch den ein Wagen sich soeben durcharbeiten kann. Früher war der Hohlweg doppelt so breit. Aber Jahr für Jahr rieselte der Grund von beiden Seiten in den Weg hinunter.

„Ewig wechselt der Wille den Zweck und die Regel, in ewig
Wiederholter Gestalt wälzen die Taten sich um.
Aber jugendlich immer, in immer veränderter Schöne
Ehrst du, fromme Natur, züchtig das alte Gesetz.“

Dieser Hohlweg läßt die ordnende Hand des Menschen vermissen. Unter der Masse der seine Sohle bedeckenden dürren Blätter läuft noch das Wasser des Winters zu Tal. Ich steige auf seinen Rand und tauche hinein in den Wald, wo ringsumher das Grünen und Blühen und der muntere Gesang der Vögel das alte Gesetz des Vergehens und Werdens in der Natur verkünden. Nicht weit von mir entfernt läßt eine Nachtigall ihren entzückenden Schlag ertönen, Schwarzköpfchen trillert auffahrend zum Jubelgesang seine begeisterten Weisen, Grasmücken geben dazu die zwar abgetönten, aber doch noch klangreichen Mittelstimmen, kräftig mischt sich darein der Choral der Drosseln, und der Kuckuck ruft aus der Ferne den Takt dazu. Das Gezwitscher, Liebesgirren und süße Geplauder der andern Waldmusikanten, wie die Rotkehlchen und Finken, geht fast unter im allgemeinen Hochgesang. Hier in dem Vorwald, in den Rändern und buschigen Schlägen, wo sich Reislein und Zweiglein herniederneigen, ist die reichste und gesegnetste Sängerstätte. Die Eichenhecken haben noch teilweise die falben Blätter des Winters an sich hängen und beginnen erst in ihren Spitzen und Ausläufern zu schwellen. In gemessenen Zwischenräumen ragen vereinzelte große Eichbäume wie zum Schutze des Niederholzes weit über das Niveau in die Höhe. Nach dem Wege drängten sich Weiden mit grünen Kätzchen, sprossende Haselnußsträucher vor, und die Brombeeren ragen bis in den Waldweg hinein. Und die Vögel fliegen vom hohen Baum herab in das raschelnde laub der Lohhölzer, sie huschen durch die Dornhecken und sitzen im gründenden Busch, sie fliegen übe den Weg, suchen im sprießenden Gras und lassen den Wanderer, der stillstehend ihren Liedern lauscht, alle Erdenschwere vergessen.

Im Weiterschreiten komme ich an einen Schlag Hochwald. Wie in ein Heiligtum trete ich in seinen Schatten ein -

„Nur verstohlen durchdringt der Zweige laubiges Gitter
Sparsames Licht, und es blickt lachend das Blaue herein.“

Das helle Sonnenlicht tanzt in unruhigem Spiel über den grünen Wipfeln und fällt nur in seltenen Strahlen durch das Geäst in den Weg. Die Zweige wiegen und neigen sich unter dem leisen Zug, die frischen Buchenblätter nicken und wispern. Dickrindig und moosüberwoben ragen wie Säulen die Stämme, Bilder der Kraft und wuchtiger Machtfülle.

„Mich umfängt ambrosische Nacht; in duftende Kühlung
Nimmt ein prächtiges Dach schattender Buchen mich ein.“

Der fette und feuchte Waldesgrund nährt nicht nur jene Riesen, sondern auch Unterholz, hochgestielte und üppige Kräuter, ganze Himbeerkolonien, zahlreiche kräftige Blumen und Beeren, Farnfächer, Moose, Pilze, alles im Stadium lenzlichen Werdens. Nahebei erhebt sich in einer Lichtung der Hochstand eines Jägers. Hier müssen also auch Rehe und vielleicht gar Hirsche ihre Heimstätte haben. Wenn die Menschen die Waldeinsamkeit nicht stören, werden hier listige Marder, possierliche Eichhörnchen von Ast zu Ast klettern. Nur vereinzelt schallt ein Vogelruf durch die Stille, unweit gurrt eine wilde Taube.

Langsam und unvermerkt ist das Gelände gestiegen. Der Laubwald endigt in einer Schneise, die einen Blick gewährt bis tief hinunter in den Talesgrund.

„Endlos unter mir seh ich den Aether, über mir endlos.
Blicke mit Schwindeln hinauf, blicke mit Schaudern hinab.“

sagt Schiller. Hier, wo ich stehe, ists harmloser und doch schön. Ich kann das ganze Tal von Wachendorf bis Lessenich überschauen und dahinter die sich aufbauende Bergwelt der Vordereifel, aus der wie eine Riesennadel der hohe Schlot des Mechernicher Bleibergs emporragt. Viele schaffende Menschen beleben die Flur, es ist ein Bild friedlicher Arbeit inmitten einer erwachenden Frühlingsnatur.

Mein Heimweg führt mich durch einen Tannenwald. Ganz andere Eindrücke stürmen auf mich ein. Nach der Lebensfreude im Laubwald senkt sich hier eine eigentümliche Stille auf das Gemüt. Fast will meine Lenzeslust von einer plötzlich aufsteigenden Melancholie erdrückt werden.

„Aber plötzlich zerreißt der Flor. Der geöffnete Wald gibt
Ueberraschend des Tages blendendem Glanz mich zurück
Unabsehbar ergießt sich vor meinen Blicken die Ferne.
Und ein blaues Gebirg endigt im Dufte die Welt.“

Drunten liegt im Sonnenglanze meine zweite Heimat, die Stadt Euskirchen. An ihrem Rande wird von hier aus zuerst sichtbar, das Prachtgebäude, die Stätte unseres Studiums, erstehen. Der Kranz hochragender Fabrikessen, der die Stadt umgibt, verleiht ihr das Bild emsigen Schaffens. Viele von den Menschen, die in den Fabriken arbeiten, wissen nicht, wie schön die Natur an einem Frühlingsmorgen ist. Ihnen gilt, was Schiller in seiner herrlichen Dichtung sagt:

„Unter demselben Blau, über dem nämlichen Grün
Wandeln die nahen und wandeln vereint die fernen Geschlechter;
Und die Sonne Homer's, siehe, sie lächelt auch uns.“





Euskirchener Volksblatt Nr. 97 vom 27. April 1943, Nr. 99 vom 29. April 1943.


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