Leben und Werk von Nikolaus Reinartz,
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Das Schicksal der Maria Voissel

In unserer Nr. 168 vom 20. 7. ds. Js. war im „Bummel durch die Stadt“ von der Euskirchener Weinwirtin Maria Voissel die Rede. Dazu erhalten wir nun die folgende, wertvolle Leserzuschrift, die reiche historische und besonders familiengeschichtliche Aufschlüsse gibt.

Lieber Jupp vom Veybach!

Da fällt mir beim Sichten der Akten eine Zeitung in die Hand, die zwar schon zwei Monate alt ist, aber aus irgendeinem Grunde zurückgelegt wurde. Ich fange an zu lesen: „Bummel durch die Stadt“. Du schreibst vom Krankenhausneubau, von einem neu entstehenden Geschäftshausneubau beim Arbeitsamt, ärgerst Dich über den Halfen-Meyer, mit dem Du mit Deinem Behelfsheim nicht konkurrieren kannst und, nachdem Du Dich in Gedanken mit der Witwe Voissel seligen Angedenkens beschäftigt hast, möchtest Du am liebsten eine traute, stille Weinkneipe aufsuchen. Dort würdest Du dann weiter träumen von der jungen Witwe, die vor fast 300 Jahren den Euskirchener Ratsherren den Wein kredenzte.

Ja, mein lieber Jupp, ich will ja gerne glauben, daß die alten Euskirchener noch aus Großväter-Überlieferung von der Witwe Voissell wissen und diese für die Weinkenner so etwas wie ein Begriff geworden ist. Nicht genug, daß Du oder Deine Mitbürger sich etwas darunter vorstellen können, auch Deine Kreiseuskirchener und Kreisschleidener Leser möchten gerne wissen, was das mit der Witwe Voissel auf sich hat. So nimm denn das Wunschhütchen vom Haken, dazu den Knotenstock und geh mit mir die Wilhelmstraße hinab, am Veybach vorbei durch den Auel an der Tuchfabrik Ruhr vorbei. Euenheim und Wißkirchen lassen wir rechter Hand liegen, besehen uns flüchtig die Burg Veynau, durchwandern Satzvey und gehen weiter auf schattiger Waldstraße am Katzenstein vorbei, wandern in Katzfey rechts unter dem Eisenbahndamm hindurch und stehen bald vor einem alten Gehöft, beschattet von einem mächtigen Eichenbaum.

Unter seinem breiten Blätterdach wollen wir uns niederlassen. Das ist Burgfey und dieser alte Eichenbaum, wenn er sprechen könnte, würde uns manches erzählen können von den kleinen Freuden und großen Leiden eines jungen Ehepaares, das hier gelebt und gearbeitet, geglaubt und gehofft hat und endlich hinter den festen Mauern der alten Stadt Euskirchen Schutz vor Neid und Habgier gewaltiger Herren suchte und fand.

Hier in Burgfey lebte einige Jahre Maria, die Gattin des Halbwinners, Kaufmanns und Bergwerksunternehmers Christian Voissel (auch Vossell), dem im Jahre 1663 der Graf von Manderscheid-Blankenheim das Gut mit noch anderen Ländereien verpachtete.

Maria war die Tochter des im Jahre 1660 verstorbenen Rentmeisters Krummel auf Haus Rath bei Strempt, der dem alten Eifeler Rittergeschlecht derer von Nechtersheim entstammte. Dieses Geschlecht wird in den Urkunden von Nettersheim bereits im Jahre 1229 erwähnt und ist mit seinen Zweigen und Sprossen auch in der Geschichte des Kreises Euskirchen nicht unbekannt. Etwa um 1450, wohnte bereits ein Ritter Arnold von Nechtersheim auf Burgfey, der zugleich auch Amtmann von Euskirchen war. Die Geschichte erzählt uns von einem Burgmannen Jakob Krummels von Nechtersheim und dessen Sohn, der im 15. Jahrhundert beim Grafen von Blankenheim in Ungnade fiel. Ein Franz Krummels von Nechtersheim, Herr zu Firmenich, wohnhaft in Dottendorf, war ein Verwandter des Zülpicher Propstes Wilhelm Dietrich von Hoven (Friesheim). In einer Abhandlung des Pfarrers Jansen „Das nobile Zülpich“ ist zu lesen, daß eine Sophia von Boulich auf Haus Boulik dieses Rittergut, das schon im 14. Jahrhundert Stammsitz des gleichnamigen Geschlechtes war, im Anfang des 16. Jahrhunderts durch Heirat mit Heinrich von Nettersheim, genannt Krummels, an diese Familie brachte, daß ferner eine Margareta von Collin aus Burg Linzenich um 1600 ebenfalls einen Krummel von Nettersheim, vermutlich den Dietrich, heiratete, der 1572 vom Erzbischof Salentin mit der Halbscheid des Schlosses Weier belehnt wurde. Um 1650 saß ein von Nettersheim auf dem Rittergut Burg Firmenich. Er war ein Jülich-Pfalz-Neuburgischer Beamter. Doch wer will sie alle aufzählen, die diesem Geschlecht entsprossen, dessen Helmzierde eine Schlange war und das mit 6 Herzen siegelte.

Wie die junge Frau aussah, das hast Du uns schon gesagt. Sie war hübsch, sie lachte gern, hatte Verständnis für Humor und betrieb in Euskirchen im Jahre 1677 einen gut florierenden Weinhandel.

Und was kann uns nun die alte Eiche erzählen? Sie sah frohe Kinder spielen unter ihren breiten Zweigen, sie hörte die Geschichten, die der Großvater Paul Vossell, einer der erfolgreichsten Bergwerksunternehmer seiner Zeit, ihnen erzählte: den Mädchen von den Wichten und Zwergen in den Bergen und den Buben grausige Dinge aus dem letzten, dem 30jährigen Kriege. Sie war Zeuge der Freude im Hause Burgfey, als der Graf von Manderscheid-Blankenheim im Jahre 1667 Vossell die Generalbelehnung und das Recht erteilte, allenthalben in der Grafschaft Blankenheim und der Freiherrschaft Jünkerath nach Bleierz und anderen Mineralien zu suchen und sah voll Stolz hinunter auf die neue Bleihütte, die im Jahre 1662 zu ihren Füßen erbaut worden war.

Sie war aber auch Zeuge des schlechten Zustandes der neben ihr stehenden Gebäude nach dem langen Kriege, sah die baufällige Scheune, Stallungen und das Backhaus, die fehlenden oberen Fenster und den Boden der Küche, der voller Löcher war. Oft, wenn der Vater tage- und wochenlang auf Reisen war nach Frankfurt, wo Vossell eine Faktorei im Bleihandel besaß, oder anderwärts, hat sie geglaubt, ihre Zweige schützend über Haus und Hof, Frau und Kinder halten zu müssen. In solchen Zeiten ruhte die ganze Last der Wirtschaft und Geschäfte auf den Schultern der jungen Frau.

Unternehmungsgeist und Erfolg hatten aber auch bald den Neid und die Mißgunst anderer Interessenten hervorgerufen. Man hatte Einspruch eingelegt gegen den Bau der Bleihütte, weil dadurch die Fische im Wasser stürben und das Vieh auf den Weiden einginge. Die Arenberger Verwaltung in Kommern mischte sich ein. Nach langem Hin und Her wird Vossell endlich unter Androhung von Prügel und Kerker gezwungen, einen Revers zu unterschreiben, der ihn zur Stillegung der Hütte und zur Zahlung einer Geldbuße verpflichtete. Vossell zahlte nicht. Der Kommerner Schultheiß pfändete die Ernte auf dem von Vossell noch bewirtschafteten Roggendorfer Hof. Neue Verdächtigungen, neue Klagen kommen. Sie brechen alle kläglich zusammen. Die Neider hetzen weiter gegen ihn. Er soll übel hausen und den Berg durchwühlen, wobei der Graf geschädigt würde. Die gräfliche Verwaltung verlangt 5000 Reichstaler von Vossell. Dieser sieht sich gezwungen, das Kammergericht in Speyer um Entscheidung anzurufen. Einen solchen Schritt betrachtete aber der Graf von Manderscheid als Rebellion eines Untertanen und empfand die Ladung vor dem obersten Gerichtshof des Reiches als persönliche Beleidigung. Es setzten seitens der gräflichen Verwaltung Repressalien ein, sogar ein Posten Soldaten wird zur Bewachung Vossells nach Burgfey verlegt. Die alte Eiche hat es miterlebt. Der Graf beachtete die inzwischen eingetroffene Verfügung des Kammergerichtes nicht.

Traurig sieht die Eiche zu, wie Vossell mit Frau und Kindern Burgfey und das Gebiet des Blankenheimer Grafen verläßt und auf dem Roggendorfer Hof Wohnung bezieht, der außerhalb der Gerichtsbarkeit des Grafen liegt. Den Hof in Burgfey ließ er durch fremde Leute weiter bestellen.

Wie es der Familie hier erging, können wir aus den Aufzeichnungen des Pfarrers Reinartz aus Kreuzweingarten ersehen.

Der Blankenheimer Graf ließ Vossell durch den Schloßkommandanten mit zwei lothringischen Reitern aufspüren und über die Erde zunächst nach Lorbach schleifen, von wo er nachts mit 7 Reitern nach Blankenheim ins Gefängnis gebracht wurde. Nach 11 Tagen Haft zwang man ihn zu einer Entschädigungs- und Verpflichtungserklärung, für deren Erfüllung er dem Grafen mit seinem Leben und dem Leben seiner Frau und seiner Kinder haften sollte. Aus der Haft entlassen, legt er notarielle Verwahrung gegen das erpreßte Versprechen ein. Inzwischen hatte sich auch Frau Maria bittend an das Reichskammergericht gewandt, das auch sofort dem Grafen ein Strafmandat zustellte mit dem Bemerken, daß derartige Gewalthandlungen bei Jedermann höchst ärgerlich, strafwürdig und unrechtmäßig seien. Der Graf wird vor das Kaiserliche Gericht geladen.

Jetzt suchte man Vossell einzuschüchtern. Man droht ihm, seinen Namen in Frankfurt und an anderen Orten öffentlich anzuprangern „zur ewigen Schande“, wie es heißt, „für ihn und die Seinigen“.

Vossell reist selbst zum Gericht nach Speyer. Kaum ist er abgereist, da erscheinen wieder 4 Schützen des Blankenheimers, um ihn erneut zu verhaften. Da seitens des Kammergerichtes aber auf die Dauer nichts Durchgreifendes gegen den Grafen und zum Schutze Vossells geschah, sah dieser sich zur Selbsthilfe gezwungen. Er ging nur noch mit dem Feuerrohr bewaffnet aus.

Die Zustände werden in den nächsten Jahren immer unangenehmer. Vossell fühlt, daß sein Leben bedroht ist, und so zieht er nach fast 10jährigem, mit zäher Entschlossenheit gegen seine Gegner und Neider geführtem Kampf im Oktober 1672 mit seiner Familie nach Euskirchen, um vor den Nachstellungen des Grafen und mehr noch seiner Hintermänner sicher zu sein.

Aber die Gehässigkeit folgte ihm auch dorthin. Man erzählt, daß er sich schlimmer als ein Untertan verhalte, er sei verarmt und habe nichts mehr zum Leben, wolle Kriegsdienst annehmen, um dann dem Grafen und seinen Dienern an Leib und Leben schaden zu können und dergleichen mehr. Bürgermeister und Rat der Stadt prüfen gewissenhaft die Anschuldigungen nach und stellen fest, daß alles Lüge ist. In dem von der Stadt ausgestellten Bürgerbrief heißt es sogar, daß er sich als Bürger wie andere gut geführt habe, vermögend sei und sein Kaufmannsgeschäft zum Wohl und Nutzen der Bürgerschaft betreibe, und man es ungern sehen würde, wenn der ehrengeachtete und vornehme Voissel die Stadt wieder verlasse.

Vossell ist mit seiner Familie in Euskirchen geblieben und wohl auch dort nicht viele Jahre später gestorben. Die Witwe Vossell lebte noch im Jahre 1686 dort. Einer ihrer beiden Söhne erwarb das Bürgerrecht in Münstereifel, ihre Tochter Gertrud zog wieder als Ehefrau Schwarz nach Strempt, und die beiden anderen Töchter heirateten Euskirchener Bürger. So findet sich die Witwe Vossell, außer bei den Familien gleichen Namens und der vorerwähnten Familie Schwarz, auch in der Ahnenreihe mancher Familien des Kreises Euskirchen, wie z. B. der Baum(s) und Weiler in Euskirchen, der Bierekoven und Schmitt in Vernich und Zülpich, der Koep, Spelter, Diefenthal u. a. mehr.

Was uns da bei der kurzen Rast unter der alten Eiche der leise über die Berge streichende Herbstwind zusäuselte, und was die Blätter der Eiche rauschten, das klang nicht gerade so wie Léhar's Musik zur lustigen Witwe. Ein Sohn des Jakob v. Nechtersheim hat einmal geschrieben:

„Herren Dienst dauert nicht
Herren Gunst erbet nicht.“

Seine Blutsverwandte Maria Krummels und ihr Mann Christian Vossell haben es erfahren.

Ich glaube aber, daß die Witwe Vossell auf Grund ihres Herkommens, ihrer Erziehung und Bildung auch eine in der damals noch kleinen Stadt Euskirchen geachtete Person war und daß sie manchem Ratsherren mit einem kühlen Trank auch einen guten Rat ausgeschenkt hat.

Solltest Du aber einmal mit den Euskirchenern, ob jung oder alt, eine Eifelwanderung machen und ihr seht die Eiche, so mögt ihr mit berechtigtem Stolz hochachtend des Bürgermeisters und Rates gedenken, die damals einer hartbedrängten Familie Schutz und Sicherheit innerhalb der festen Mauern der wehrhaften Stadt Euskirchen boten.

Noch viele tausendmale wurde die Eiche, wenn der Südwestwind einen hellen Glockenklang der Kapelle in Strempt zu ihr herübertrug, erinnert an Maria und Christian Vossell, die diese Kapelle erbauten (wurde 1890 durch die jetzige Kapelle ersetzt).

Wo vor 300 Jahren die Vossells und ihre Gewerkschaftler Löcher auswarfen und Stollen graben ließen um Bleiadern zu finden, bringen heute die Förderkörbe Tag und Nacht Hunderte von Bergleuten in die Schächte des jetzt ergiebigsten deutschen Bleibergwerkes, und wenn am Nachmittag der Donner der Sprengschüsse durch die Eifeltäler rollt und schwerbeladene Güterzüge am Burgberge vorbeirattern, dann schüttelt wohl die Eiche ihr hochbetagtes gewaltiges Haupt und denkt:

Wie schnell sich doch die Zeiten ändern
und – wie langsam nur die Menschen.

Jupp vom Neffelbach


Euskirchener Volksblatt, Nr. 244, 19.10.1950; Nr. 246, 21.10.1950.


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